Offener Brief Teil 3
Im ersten Teil dieser Artikelserie wird über einen von unserem Mitglied Herrn Freundel verfassten umfangreichen offenen Brief und die Reaktion darauf berichtet. Herr Freundel hat seinen Brief in unterschiedlichen Fassungen über den DBITS e.V. an Herrn Hubertus Heil (Bundesminister für Arbeit und Soziales), an die regierenden Parteien SPD, Grüne und FDP und an die Oppositionsparteien CDU/CSU sowie Die Linke geschickt. In zweiten Teil wird über die grundsätzlichen Überlegungen eines daraufhin erarbeiteten Lösungsvorschlags berichtet.
In diesem dritten Teil der Artikelserie wird über den von Herrn Freundel erarbeiteten Lösungsvorschlag berichtet.
Der Lösungsvorschlag basiert auf der Einkommenshöhe
Die hier vorgeschlagene Lösung basiert auf der Höhe des zu versteuernden Einkommens als Positiv-Kriterium:
- Aufgrund der Prämisse „Rentenversicherungs-Pflicht“, ist die soziale Absicherung gewährleistet
- Liegt das zu versteuernde Einkommen des Erwerbstätigen über einer zu definierenden Grenze, hat der Erwerbstätige die Entscheidung über eine Selbstständigkeit in der eigenen Hand: Er kann sich entscheiden selbstständig zu sein – muss es aber nicht!
- Liegt das zu versteuernde Einkommen des Erwerbstätigen unter dieser Grenze, könnten wie bisher die Regelungen der Statusfeststellung angewendet werden
Laut einem Rechtsgutachten[1], das der Arbeits- und Unternehmensrechtsexperte Prof. Dr. Markus Stoffels im Auftrag des Digitalverbands Bitkom erstellt hat bietet sich die „Aufstellung einer Verdienstgrenze“ als Positivkriterium an.
Zwar schreibt die Deutsche Rentenversicherung[2]:
„Allein aufgrund eines besonders hohen Honorars kann demnach eine selbständige Tätigkeit nicht begründet werden. Unter Hinweis auf den Grundsatz der Solidarität aller abhängig Beschäftigten hat das Bundessozialgericht vielmehr klargestellt, dass keine Dispositionsfreiheit in dem Sinne besteht, dass man sich durch Vereinbarung eines Zuschlages zu einem üblichen Stundenlohn eines vergleichbaren abhängig Beschäftigten von der Sozialversicherungspflicht „freikaufen“ kann (BSG-Urteil vom 07.06.2019 – B 12 R 6/18 R –, USK 2019-34).“
In diesem von der Deutschen Rentenversicherung genannten Urteil[3] ist jedoch noch vorangestellt:
„Diese Einschränkung der indiziellen Bedeutung der Honorarhöhe ergibt sich daraus, dass die Sozialversicherung auch dem Schutz der Interessen der Mitglieder von in Pflichtversicherungssystemen zusammengeschlossenen Solidargemeinschaften verpflichtet ist.“
Mit der Einführung einer allgemeinen Rentenversicherungspflicht kann das zu versteuernde Einkommen bzw. die Honorarhöhe NICHT mehr als „Freikaufen“ von der Sozialversicherungspflicht angesehen werden!
Für die Einkommenshöhe als Positivkriterium gibt es auch Stimmen aus der Politik, z.B.:
B. Loth, Leiterin des Fachforums Arbeitswelt, Tarifpartnerschaft und Integration des Wirtschaftsforums der SPD[4]:
„Für externe Digitalisierungsexperten mit bestimmter Einkommenshöhe könnten Ausnahmetatbestände mit Positivkriterien eingeführt werden. Bei Nachweis einer angemessenen Altersvorsorge wäre das Interesse der Solidargemeinschaft an der Absicherung der Sozialversicherung erfüllt und damit der rechtssichere Einsatz für die Unternehmen ermöglicht.“
Markus Kurth, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (2020, Bundestagsrede)[5]:
„Wenn Selbstständige in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert wären, würde das Problem wesentlich einfacher zu lösen sein. Dann könnten wir zum Beispiel Opt-out-Regelungen machen, wonach Selbstständige mit einem besonders hohen Einkommen sich dafür entscheiden können, auf das Statusfeststellungsverfahren zu verzichten.“
Einkommensbasierter Ansatz mit Zertifikat / “Fast-Track”
Beim einkommensbasierten Ansatz mit Zertifikat/ „Fast-Track“ wird als Kriterium für das vereinfachte Verfahren zur Statusfeststellung das zu versteuernde Einkommen des Selbstständigen verwendet: Übersteigt es ein festgelegtes Minimum (z.B. das x-fache des aktuellen Mindestlohnes auf ein Vollzeit-Arbeitsjahr gerechnet), sind Zertifikat/ „Fast-Track“ möglich.
Der Prozess beim Fast-Track-Verfahren:
- Der Selbstständige fragt bei der Clearing-Stelle an
- Die Clearing-Stelle prüft anhand der letzten Steuererklärung(en)
- Bei positiver Prüfung: Die Clearing-Stelle stellt dem Selbstständigen ein Zertifikat aus (Gültigkeit: Aktuelles Kalenderjahr)
- Der Selbstständige (NICHT die Clearing-Stelle!) gibt das Zertifikat an den Auftraggeber
Wenn das Kriterium nicht erfüllt ist bzw. wie bisher bei Verdacht (und das Zertifikat liegt nicht vor) oder auf Antrag, wird das bekannte Statusfeststellungsverfahren durchgeführt. Da ausschließlich ein Erwerbstätiger (à Selbstständiger) das Zertifikat beantragen kann und selbst entscheidet, ob er es weiterleitet, können auch Angestellte mit höherem Einkommen nicht einfach vom Arbeitgeber gegen ihren Willen zu Selbstständigen „gemacht“ werden. Ebenfalls wichtig: Durch das Zertifikat sind Auftraggeber vor „Einklagen“ geschützt.
Auftraggeber:
- Wenn ein Unternehmen einen Selbstständigen beauftragen möchte, muss es vom Selbstständigen das Zertifikat (diese Bestätigung) einfordern; bei Vertragsverlängerung muss das Zertifikat jeweils ggf. aktualisiert werden
- Wenn ein Erwerbstätiger das Zertifikat nicht (oder nicht mehr) an den Auftraggeber übermittelt, muss der Auftraggeber den Vertrag beenden (ggf. durch eine entsprechende Ausstiegs-Klausel im Vertrag)
Auftragnehmer:
- Ein Erwerbstätiger kann (!) diese Bestätigung (das Zertifikat) übermitteln, muss das aber nicht
- Ein Erwerbstätiger hat das Recht eine Statusfeststellung (bestehendes Verfahren) zu beantragen
- Ein Auftraggeber hat selbstverständlich nicht (!) das Recht diese Bestätigung (das Zertifikat) zu beantragen
Simulation der Negativ-Szenarien mit Fast-Track und Zertifikat
Simulation: Ein Unternehmen möchte Angestellte in die Selbstständigkeit drängen
- Das Unternehmen kann gemäß Lösungsansatz nicht (!) das Zertifikat beantragen
- Der Angestellte verweigert die Vorlage des Zertifikats (also der „Selbstständigkeits-Bestätigung“)
- Der Angestellte kann ein Statusfeststellungsverfahren beantragen
- Bei einem Angestellten, der selbst nicht selbstständig sein möchte, dürfte die Status-Entscheidung der Clearing-Stelle klar sein
- Der Angestellte ist mindestens so gut wie nach dem aktuellen Stand vor ungewollter Selbstständigkeit geschützt
- Dem Unternehmen bleibt natürlich die normale Kündigung – so wie nach aktuellem Stand auch
Simulation: Ein Selbstständiger möchte sich beim Auftraggeber einklagen
- Der Auftraggeber kann mit den durchgehenden Zertifikaten (also der „Selbstständigkeits-Bestätigung“) des Auftragnehmers nachweisen, dass kein (!) Angestellten-Verhältnis vorliegt oder vorlag
- Ein vom Auftragnehmer beantragtes Statusfeststellungsverfahren wird von der Clearing-Stelle im Sinne des Auftraggebers entschieden
Weitere Anmerkungen zum einkommensbasierten Ansatz mit Fast-Track und Zertifikat
Eine Option ist, nicht das Einkommen, sondern das zu versteuernde Einkommen als Kriterium für zu verwenden: Z.B. abhängige Paketfahrer mit „eigenem“ LKW (hohe Abschreibung/ Leasingrate) fallen damit gewollt nicht unter diese Regel.
Als mögliche Größen für die Einkommensgrenze bieten sich an (jeweils auf das Jahr gerechnet):
- Beitragsbemessungsgrenze der Sozialversicherungen
- Deutsches Durchschnittseinkommen
- Vielfaches des Mindestlohnes
Da bei Beginn der Selbstständigkeit normalerweise noch kein entsprechendes Einkommen vorhanden ist, könnte es so geregelt werden, dass der Selbstständige bei Beginn der Selbstständigkeit ein Statusfeststellungsverfahren auf Basis der geplanten Tätigkeit und der zu erwartenden Umsätze beantragt; der festgestellte Status würde für ein Jahr gelten.
Um bei einem einkommensschwachen Jahr nicht aus dem Fast-Track zu fallen, könnte das zu versteuernde Einkommen für die Untergrenze über drei Jahre gemittelt werden. Und wenn die Grenze dennoch unterschritten wird, würde der Selbstständige ein Statusfeststellungsverfahren beantragen: Sinnvollerweise würde dann das Vorliegen von Zertifikaten in vergangenen Jahren bei sonst gleicher Tätigkeit von der Clearing-Stelle als wichtiges Kriterium erachtet werden.
Außerdem gibt es insbesondere bei Erziehungs- und Pflegezeiten bereits in anderen Bereichen (z.B. bei der Berechnung des Elterngeldes) „Verschiebetatbestände“, die den Berechnungszeitraum verschieben können (z.B. wegen Mutterschutz) – ähnliche Regelungen könnten auch beim einkommensbasierten Ansatz mit Fast-Track und Zertifikat angewendet werden.
Der einkommensbasierte Ansatz mit Fast-Track und Zertifikat bietet für ALLE nur Vorteile
Vorteil für Selbstständige:
- Legt ein Selbstständiger die Bestätigung vor, ist er für diesen Zeitraum (z.B. ein Jahr) effizient und wirksam vor Scheinselbstständigkeit geschützt
Vorteil für die Wirtschaft/ Auftraggeber:
- Wenn die Bestätigung des Auftragnehmers vorliegt, ist der Auftraggeber für diesen Zeitraum (z.B. ein Jahr) effizient und wirksam vor Scheinselbstständigkeit und „Einklagen in das Unternehmen“ geschützt
Vorteil für Angestellte:
- Versucht ein Unternehmen einen Angestellten gegen dessen Willen in eine Selbstständigkeit zu drängen, kann der Angestellte sich mit den Regeln der bisherigen Statusfeststellung auf Antrag wehren und schützen
Vorteil für den Staat:
- Einfache Abgrenzung von schutzbedürftigen und nicht schutzbedürftigen Erwerbstätigen
- Ohne zusätzlichen Aufwand mehr Kapazitäten für den Schutz vor ungewollter Selbstständigkeit
- Ohne zusätzliche Kosten wirksame Vereinfachung/ Entbürokratisierung für die Wirtschaft
Was wäre, wenn die Rentenversicherungspflicht erstmal nicht kommen sollte?
Die hier gezeigte Lösung wurde mit der Prämisse beschrieben, dass gleichzeitig auch eine allgemeine Rentenversicherungspflicht auch für Selbstständige eingeführt wird. ABER: Was wäre denn die Einführung dieser allgemeinen Rentenversicherungspflicht erstmal verschoben würde…?
Es wäre trotzdem notwendig und auch richtig, die drängenden Probleme der selbstständigen Wissensarbeiter und der Wirtschaft zu lösen! Die beschriebene Lösung ist trotzdem richtig und auch für den Sozialstaat sehr gut akzeptierbar! Eine Allensbach-Studie[6] zeigt, dass fast alle IT-Freiberufler jetzt schon verantwortungsvoll vorsorgen. Außerdem: Rund 30% der Ausgaben der Rentenversicherung werden aus Steuermitteln finanziert[7] UND insbesondere IT-Selbstständige tragen überproportional zum Steueraufkommen bei[8].
Kurzer Exkurs zu “Schutzbedürftigkeit”
Erst während des Schreibens dieser Artikelserie ist dem Verfasser ein spezieller Aspekt aufgefallen: Was bedeutet eigentlich „Schutzbedürftigkeit“? Im Rahmen des Themas Scheinselbstständigkeit wird regelmäßig mit „Schutzbedürftigkeit“ argumentiert und als einer der zentralen Punkte herangezogen. Erstmal klingt „Schutzbedürftigkeit“ im Zusammenhang mit Erwerbstätigen vollkommen klar: Erwerbstätige müssen ggf. vor ihren Aufraggebern (oder Arbeitgebern) geschützt werden. Aber tatsächlich ginge es wohl eigentlich um „soziale Schutzbedürftigkeit“, d.h. eher darum ob der Erwerbstätige mit seinem Einkommen ein angemessenes Leben führen kann und ausreichend (insbesondere für das Alter) vorsorgen kann.
Und wiederum „aber“: Wenn man weiter zu dem Begriff sucht und auch Aussagen/ Kommentare/ Berichte aus und von der Politik betrachtet, erscheint es doch wieder zumindest auch um eine eher allgemeine „Schutzbedürftigkeit“ zu gehen, z.B.: Ist der Selbstständige seinem Auftraggeber ausgeliefert oder kann er sich bei Bedarf einen anderen Kunden suchen? Kann der Selbstständige angemessene Arbeitszeiten und Erholungspausen gestalten? Kann der Selbstständige allgemeine und spezielle Anforderungen an den Arbeitsschutz durchsetzen? Allgemein formuliert: Wird der Selbstständige korrekt und fair behandelt?
Je weiter man in die Materie der Scheinselbstständigkeit eintaucht, desto mehr treten die Punkte des vorigen Absatzes in den Hintergrund. Aber wenn Politiker, Behörden oder Organisationen sprechen, erscheint es häufig (meistens?) doch so, dass zumindest zu einem gewichtigen Teil dieser Schutz „vor“ dem Auftraggeber (oder auch Arbeitgeber) und allgemein der Schutz im Zusammenhang mit der Arbeit gemeint ist, z.B. die „Fürsorgepflichten“ eines Arbeitgebers gegenüber den Angestellten.
Daraus wiederum folgt, dass bei Lösungen zum Thema Scheinselbstständigkeit auch dieser „inoffizielle“ Punkt beachtet werden muss, weil die Lösung sonst politisch kaum durchsetzbar wäre.
Die Selbstständigen, die Wirtschaft und auch der Sozialstaat brauchen endlich eine vernünftige Lösung!
Der einkommensbasierte Ansatz mit Fast-Track und Zertifikat ermöglicht eine einfache und sinnvolle Abgrenzung zwischen Selbstständigen, die einen besonderen Schutz des Staats benötigen, und Selbstständigen, denen der Staat automatisch zugestehen kann und muss, dass sie selbst für ihre Belange eintreten.
Der einkommensbasierte Ansatz mit Fast-Track und Zertifikat ermöglicht unfreiwillige und ungewollte Selbstständigkeit weiterhin zu prüfen und zu verhindern – und freiwillige und gewollte Selbstständigkeit unbürokratisch und für alle Seiten rechtssicher zu ermöglichen.
Die beschriebene Lösung ist ein Gewinn für alle Selbstständigen UND für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
Die beschriebene Lösung ist für alle eine Verbesserung – ohne etwas zu verschlechtern.
[1] https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Gutachten-IT-Freelancer-sind-Selbststaendige
[2] https://www.deutsche-rentenversicherung.de/SharedDocs/Downloads/DE/Fachliteratur_Kommentare_Gesetzestexte/summa_summarum/rundschreiben/2022/statusfestellung_erwerbstaetige.html
[3] https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/2019_06_07_B_12_R_06_18_R.html
[4] https://www.spd-wirtschaftsforum.de/wp-content/uploads/2019/04/PM-Digitalisierungsexperten_01042019.pdf
[5] https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Gutachten-IT-Freelancer-sind-Selbststaendige
[6] https://www.freelancer-studie.de/studie-2018.html
[7] https://www.deutschlandfunk.de/reform-der-altersvorsorge-rente-deutschland-100.html
[8] https://www.computerwoche.de/a/verhinderung-von-scheinselbstaendigkeit,3099060
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